- Literaturnobelpreis 1977: Vicente Aleixandre
- Literaturnobelpreis 1977: Vicente AleixandreDer Spanier erhielt den Nobelpreis für »seine schöpferische Dichtung, die die Verhältnisse des Menschen im Kosmos und in der heutigen Gesellschaft beleuchtet«.Vicente Aleixandre, * Sevilla 26. 4. 1898, ✝ Madrid 14. 12. 1984; Kindheit in Málaga und Madrid, Studium der Rechtswissenschaften in Madrid, Dozent für Handelsrecht, ab 1925 wegen eines Nierenleidens weitgehend berufsunfähig, 1933 Nationaler Literaturpreis Spaniens, ab 1950 Mitglied der Spanischen Akademie.Würdigung der preisgekrönten LeistungVicente Aleixandre war einer der bedeutendsten Vertreter der »Generation von 1927«, einer Gruppe spanischer Literaten, die großen Anteil am so genannten zweiten goldenen Zeitalter der spanischen Literatur hatte. Er wurde als Repräsentant nicht nur der spanischen, sondern auch der surrealistischen Literatur mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, zumal der französische Surrealismus keinen bedeutenden Lyriker hervorgebracht hatte.Politik spielt — doch — keine RolleWenngleich das Nobelkomitee sich 1977 recht schnell auf die Nationalität des Preisträgers einigen konnte, war die Person umstritten. Der härteste Konkurrent Aleixandres war sein Freund Rafael Alberti. Man erwog sogar eine Teilung des Preises. Zugunsten dieser Lösung wurde argumentiert, dass die Entscheidung für nur einen der Kandidaten politisch missdeutet werden könne. Bei einer Preisteilung sollte Aleixandre die innere Emigration im totalitären Spanien Francos repräsentieren, Alberti den Exilwiderstand. Der Begründung zufolge gab letztlich Aleixandres größere Bedeutung für die jüngeren spanischen Dichter den Ausschlag. Ferner hieß es, Aleixandres Wirkung sei zum Zeitpunkt der Preisverleihung noch zu spüren gewesen, während der Stern Albertis verblichen sei. Das Komitee schrieb Alberti zwar größeren Glanz und Ruhm zu, hob aber auf die Rolle Aleixandres in der spanischen Kultur ab. Er habe großen Anteil an der Fortsetzung des (zweiten) goldenen Zeitalters, das während der Ära Francos »in Blut ertränkt« wurde, in der Gegenwart gehabt. Die politische Bedeutung der Wahl Aleixandres sah das Nobelkomitee nicht.Ein Surrealist?Aleixandre hatte ein langes, aber von Krankheit gezeichnetes Leben. Bereits 1917 löste die Lektüre einer Gedichtsammlung Rubén Daríos »eine Revolution« in seinem Denken aus. Er wandte sich jedoch erst vollständig der Lyrik zu, nachdem er 1925 an einer Nierentuberkulose erkrankt war. Die Krankheit zwang ihn nicht nur zur Aufgabe seines Berufs, sondern fesselte ihn darüber hinaus für einen großen Teil seines Lebens ans Bett. In den ersten Jahren seiner Krankheit wurden die weiteren entscheidenden Weichen für seinen Werdegang gestellt: 1928 erschien sein erster Gedichtband unter dem Titel »Ambito« (spanisch; Umkreis). Zu diesem Zeitpunkt war er bereits mit vielen anderen Lyrikern Spaniens befreundet. Der Kreis der Freunde war es, der später als »Generation von 1927« bekannt wurde. Die Freunde hatten eine ähnliche Vorstellung von Wesen und Form der Dichtung wie die französischen Surrealisten. Die Spanier versuchten sich von ihren nördlichen Nachbarn abzugrenzen und zählten sich nicht zur Strömung des Surrealismus. Sie bezeichneten ihre Kunstform als »Ultraismus« oder »Kreationismus«.Aleixandre selbst war der Meinung, unabhängig von seiner Gruppe wäre er nicht in der Lage gewesen, sein Talent zu entfalten. Der Künstler brauche eine vorwärtsdrängende kulturelle Umgebung, um seine Schaffenskraft zu entwickeln. Die Umgebung habe das Spanien Pablo Picassos, José Ortega y Gassets, Manuel de Fallas und seiner Gruppe geboten. Der kulturelle Nährboden wurde im spanischen Bürgerkrieg (1936-39) zerstört. Zahlreiche Mitglieder der kulturellen Elite und insbesondere seiner Gruppe verließen Spanien. Er selbst verbrachte den Bürgerkrieg in der republikanischen Zone, blieb aber nach Francos Sieg wegen seiner Krankheit in der Heimat. Nach vier Jahren wurde das gegen ihn ausgesprochene Veröffentlichungsverbot aufgehoben, und er behielt seine Bedeutung im spanischen Kulturleben bei.Neben seiner Krankheit, seinem Freundeskreis und der frühen Lektüre Rubén Daríos hatte das Werk Sigmund Freuds den größten Einfluss auf Aleixandres Schaffen. Die Grundfrage seiner Arbeit stellte er sich jedoch selbst: »Was ist Lyrik?« In den endlosen Stunden seiner Meditation über diese Frage fand er spät seine Antwort: »Lyrik ist Kommunikation.« Damit meint Aleixandre »Solidarität mit dem Rest der Menschheit«, eine Verbindung mit dem inneren Menschen. Die Solidarität bezieht sich nach Aleixandre auf alle Menschen und verpflichtet den Dichter zu Moralität. Während manche Lyriker für eine Minderheit sprächen, sagte Aleixandre in seiner Rede zur Preisverleihung, gehöre er zu denen, die sich der Gesamtheit der Menschen, dem Einigenden und Grundlegenden, verschrieben haben.Eros und ThanatosAleixandres Schaffen hat sich zwar unaufhörlich weiterentwickelt, lässt sich aber in zwei Perioden einteilen. Stand in der ersten Periode das Verschmelzen des Menschen mit dem Universum im Vordergrund, so verdrängte in der zweiten — ab 1954 — die menschliche Gesellschaft das Universum von seinem Platz. Der Mensch wurde nun vor allem als historisches, soziales Lebewesen betrachtet. Das zentrale Thema in Aleixandres Schaffen jedoch ist die Liebe. Seine Gedichte trägt er in einer schwer verständlichen Sprache vor, die formal des öfteren die Grenze zur Prosa überschreitet.Bereits in seinem ersten Gedichtband, »Ambito«, entwickelt Aleixandre den Gegensatz zwischen Finsternis (Zerstörung, Tod, Verzweiflung) und Licht (Liebe, Leben, Erlösung). Das Streben nach Ewigkeit führt von der Dunkelheit zum Licht, wobei offen bleibt, ob Ewigkeit zu erreichen ist. Unmittelbar nach dem Erscheinen von »Ambito« verfasste Aleixandre seine zweite Gedichtsammlung, die vollständig erst 1946 unter dem Titel »Pasión de la tierra« (spanisch; Passion der Erde) erschien. Die Gedichte bestehen aus einer Aneinanderreihung unbewusster Assoziationen und spiegeln die Auflösung des Wirklichen wider. In diesem Werk kommt Aleixandre dem Surrealismus am nächsten. Die bedeutenden Gedichtsammlungen »Espadas como labios« (spanisch; Schwerter wie Lippen) von 1932, »Die Zerstörung oder die Liebe« (1935) und »Sombra del paraíso« (spanisch; Schatten des Paradieses) entwickeln die Thematik von »Ambito« weiter.Die »Geschichte des Herzens« rückt das Thema der menschlichen Solidarität, vor allem als Verpflichtung des Dichters, in den Mittelpunkt. Man könnte sagen, dass die späteren wichtigen Gedichtsammlungen die Thematik der ersten Schaffensphase in den neu gewonnenen Horizont integrieren und eine Perspektive für den zum Sterben verurteilten Menschen suchen: Die Liebe zwischen den Menschen und zum Universum lässt die Hoffnung auf Ewigkeit und Erlösung bestehen.B. Rehbein
Universal-Lexikon. 2012.